Mal wieder n
Adventskalender:
22
Ich liebe sie
Ihre Augen sind voller Leben und strahlen
mich an
Wenn sie lacht wirkt das ansteckend
und wenn sie weint
kannst du gar nicht anders
als sie zu trösten
97 Jahre, ne hohe Hausnummer
und seit 3 Jahren hat sie das Bett nicht mehr verlassen
aber wenn ich ihr Zimmer betrete grinst sie mich an
-Da bist du ja. Ich habe schon so lange gewartet
Ich begrüße sie und
manchmal erkennt sie mich sogar
und nennt mich bei meinem richtigen Namen
Dann fangen wir auch schon an
zu streiten
-Immer diese Trinkerei – Ich bin doch kein Brauereipferd!
-Die Emmie hat mich doch gerade gewaschen. Lass das!
-Tu mir nicht weh!
-Ich spuck dir das Essen auf den Teller zurück!
-Scheiß Eincremen – lass das sein!
-Tu mir nicht weh!
Und so weiter
Zwischendurch singt sie
fragt mich nach meiner Frau (Kollegin), meinen Töchtern (Krankenpflegeschülerinnen) und
und ihrer Mutter und ihrem Mann
Bei der ersten Übergabe sagte man mir, sie sei dement
und völlig neben der Spur aber
so ganz stimmt das nicht:
Sie mag mich, nennt mich ihren Liebling und
das ist für mich Beweis genug
dass sie völlig klar im Kopf ist
Sie lebt halt in ihrer eigenen Welt
irgendwo tun wir das doch alle und
sie hat es sich verdient und darf das
Sie kann tierisch nerven
und ist zickig und manchmal ganz schön arschig
und wenn ich ihr das Essen anreiche ist das Folter
auch für mich, da es viel zu lange dauert
und ich doch noch weitermuss
Aber dann fragt sie
Hast du schon gegessen? Ich hole uns Kuchen
und dann ist wieder alles okay
Ihre Haut ist wie Pergament
und reißt sehr schnell ein
ihre chronischen Wunden lassen uns verzweifeln
und jede ihrer Bewegungen schmerzt
aber dann kommt wieder so ein trockener Satz von ihr
und spätestens wenn ich dann gehen muss verlangt sie ein Küsschen
und wenn ich dann gehe
weiß ich wieder
warum ich diesen Job mache
Noch eins aus dem Mittelfinger.
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