Mal wieder n
Adventskalender:
19 + 20
Da ich gestern aus Gründen geschwächelt habe, gibt es heute ein besonders langes Gedicht, sozusagen als Doppeltür. Das ist ebenfalls Uralt und aus dem Mittelfinger:
Die Lieder von damals
Manchmal höre ich sie wieder
die Lieder von damals
als wir noch jung und
das Leben spannend war
Damals mit 14/15 Jahren
unsere ersten Biere in einer Kneipe voller Leute
vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt hatten
Die ersten Selbstgedrehten
die ersten Joints
der erste Sex
die erste Police-Platte
(Göttin – so lange ist das schon her! Und damals waren die richtig gut!)
Die ersten Flugblätter
die ersten Demos
und die ersten besetzten Häuser
(und wir immer staunende und begeisterte Gäste)
und natürlich immer wieder
alles von Ton Steine Scherben
Wir entdeckten Zappa und Bukowski
und machten das Ende einer Zeit des Aufbegehrens durch
- es war Herbst 77 (nee, bei mir 78)
und die BRD erlebte ein weiteres dunkles Kapitel
deutscher Geschichte
nicht nur in Stuttgart-Stammheim
In dieser Zeit tauschten wir Winnetou gegen
„Bury my heart at Wounded Knee“
selbst von T.Rex
(und natürlich The Sweet und Status Quo)
nahmen wir schamvoll Abstand
Jim Morrison und Keith Richards dagegen
schwörten wir ewige Treue
(und haben sie bis heute gehalten)
Manchmal höre ich sie wieder
die Lieder von damals
Viele unserer Sterne sind gesunken
manche verdammt tief
während sie in Bierzelten
ihre eigene Legende in den Dreck ziehen
oder mit der x-ten Wiedervereinigung
Nostalgikern Kohle aus der Tasche ziehen
Die Kneipe unserer Jugend hat schon lange dicht gemacht
in ihren Räumen folgte eine Fahrschule
die damit warb, auf Cabrios zu schulen
The timest they are a changing
Aus einer angeblichen Bewegung
wurde eine regierungsgeile Partei
Und der real existierende Mus lief mit wehenden Bananen
in ein WIEDERvereinigtes Land
Immerhin kann uns
niemand mehr
„Nach drüben“ wünschen
Währenddessen wurden wir mehr oder weniger erwachsen
und verloren immer mehr
unsere Heimat
die wir nie richtig lieben konnten
Und irgendwo
verloren wir auch
unsere Ideale und Ziele
und Träume
Irgendwo
blieben sie einfach auf der Strecke
Manchmal höre ich sie wieder
die Lieder von damals
Manchmal singe ich mit
und tanze heimlich in meiner Bude
Die alten Lieder
die alten Plätze
Im Stadtgarten trafen wir uns bei Rotwein und Bier
Wir nahmen uns unsere Freistunden
und schafften es
das Gymnasium zu überleben
Am Kanal sprangen wir von der Brücke
und hängten uns an die Frachtkähne
Jugendlicher Übermut
der mir heute nur noch ungläubiges Kopfschütteln entlockt
Für die Bullen waren wir willkommene Opfer
mit unseren frisierten Mofas
Dann kamen die Mopeds und die ersten Autos
billige Schrottkarren
verdient mit schlechtbezahlten Schweinejobs
Das war die Zeit
als Tabak noch finanzierbar
und ein Bier unter einer Mark zu haben war
Das war die Zeit als die Mädels noch keine BHs trugen
und im Schwimmbad träumten wir davon
die weißen Stellen unter den Bikinis zu erforschen
Manchmal höre ich sie wieder
die Lieder von damals
als vieles noch viel spannender war
Jetzt haben sich die meisten von uns arrangiert
Wir gehen Berufen nach
die uns nicht Berufung sind
haben uns beamten lassen
setzten Kinder in die Welt und
sind verheiratet oder geschieden
Unter uns sind Hausbesitzer
aber auch immer noch
die letzten Mohikaner
Und manchmal bleiben wir verwundert stehen
blicken uns um
hören in uns
und fragen uns
ob da noch was ist
außer den Erinnerungen
an die Zeiten von damals
Manchmal höre ich sie noch
…
Irgendwie standen wir irgendwo
immer dazwischen
vor uns die Freaks und nach uns die Yuppies und Punks
Und einige blieben auf der Strecke
Die Liste der Niederlagen ist lang
und endet bei Suizid, Drogentod oder Krebs
Manchmal glaube ich
dass die Party endgültig vorbei ist
alle Partys vorbei sind
Dann wieder
dass die Party nie endet
das Leben eine einzige Party ist
Manchmal höre ich sie noch
die Lieder von damals
Manchmal höre ich die Lieder von heute
Immerhin:
Auch da
sind einige Perlen dabei
Anmerkungen zu „Die Lieder von damals“:
Das Gedicht ist über zehn Jahre alt. Heute würde ich es anders schreiben.
Aber ich bin eben Jahrgang 1963 und ich glaube, dass alle zwischen Jahrgang 61 und 65 das nachvollziehen können.
Heute müsste ich die 20% Rechtsradikale im Osten erwähnen, müsste die gestorbenen Helden ehren und sollte auch nicht die Hoffnung auf die Jugend und FFF unerwähnt lassen.
Ich lasse es trotzdem so stehen…
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